Der liberale Kommunitarier
Locke gegen den Strich gelesen
Der Begriff Enteignung bedeutet im allgemeinen Sinne, dass etwas von jemandem unrechtmässig weggenommen worden ist. Von wirtschaftsliberalen Theoretiker*innen wird der Begriff normalerweise benutzt, um die nicht legitime Wegnahme von Privateigentum durch den Staat zu kritisieren. Aus einer marxistischen Perspektive impliziert die Enteignung wiederum die illegitime, private Aneignung und Anhäufung von gesellschaftlichen Ressourcen oder «Commons». Aber wer hat recht? In diesem Artikel werde ich argumentieren, dass Marx zwar recht hat, aber die Kritik an der Enteignung oft im individualistischen Weltbild von Locke verhaftet bleibt. Mit Bezug auf die Philosophie von John Dewey plädiere ich dafür, dass Lockes Konzept eines unabhängigen Individuums durch ein Modell von gegenseitig abhängigen Menschen und einer verwobenen oder interdependenten Realität ersetzt werden muss. In diesem Sinne argumentiere ich, dass wir Locke neu interpretieren müssen, um den legitimen Vorrang der Commons vor Privateigentum zu begründen.
- Locke: Aneignung der Commons
John Lockes Philosophie und seine Begründung der privaten Aneignung entstand bereits vor circa 350 Jahren, übt aber weiterhin einen starken Einfluss auf unser Verständnis von Eigentum aus. Um Locke verstehen und kritisieren zu können, müssen wir deswegen seine Philosophie historisch verorten.
John Locke lebte von 1632 bis 1704 in England, während des Englischen Bürgerkriegs und der Glorreichen Revolution. In beiden Fällen ging es um einen Konflikt zwischen dem aufstrebenden Bürgertum (Whigs) und den Konservativen (Tories). Erstere wollten eine freiere Wirtschaftsordnung und mehr politische Mitspracherechte; letztere verteidigten die Machtstrukturen der Monarchie. Mit der Glorreichen Revolution wurde mittels der konstitutionellen Monarchie ein Kompromiss zwischen den zwei Lagern geschaffen: Die Monarchie bleibt, wird jedoch durch Grundgesetze und das Parlament beschränkt. Die in Lockes Schrift Zwei Abhandlungen über die Regierung enthaltenen Ideen waren eine treibende Kraft der Revolution, obwohl sie erst nach 1689 anonym publiziert wurden. In diesem Sinne müssen Locke und seine Ideen auch als revolutionär verstanden werden (Ashcraft 1986).