Die Maschinerie umbauen

Beat Schneider
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Corona-Krise und Klimakrise stellen die Systemfrage

 

In der Corona-Krise wurde in vielen Staaten mit den verordneten Massnahmen massiv in das gesellschaftliche System eingegriffen und dieses sogar in Frage gestellt. Regierungen unternahmen seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr praktizierte Eingriffe in das politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben. Exekutiven setzten die Demokratie für einige Zeit ausser Kraft, schalteten die Parlamente aus, setzten Volksabstimmungen ab und hoben Menschenrechte wie die Versammlungs-, Vereins- und Bewegungsfreiheit auf. In angstgenährter Schockstarre und im allgemeinen nationalen Schulterschluss war Kritik am staatlichen Handeln verpönt. Die politisch entmündigten BürgerInnen wurden zum partiellen Konsum-, Auto- und Flugverzicht gezwungen. Die Ausgangsperre nahm vielerorts totalitäre Züge an und mutete wie eine «Generalprobe für die zukünftige Klimakatastrophe» (Behrisch 2020) oder ein «Feldversuch zur Verfassungseinschränkung mit Konsens» (Schölzel 2020, 8) an.

In der Wirtschaft ergriffen Regierungen Massnahmen, die bisher als systempolitische Todsünden gegolten hatten. Der Kapitalismus und seine Marktlogik wurden für kurze Zeit ausgeschaltet. Hier missachteten Regierungen Privatverträge und Eigentumsrechte, indem notleidenden Kleinunternehmungen Mieten, Strom- und Wasserzinsen erlassen wurden. Dort zwangen sie Konzerne zur Industriekonversion, so dass sie statt des Gewohnten plötzlich Beatmungsgeräte produzieren mussten. Die Herrschenden handelten in Vielem so, wie sie es angesichts der Klimakrise vorher hartnäckig verweigert hatten. Keine Regierung kann heute behaupten, dass einschneidende Massnahmen nicht möglich seien!

VertreterInnen der Deutungseliten präsentierten politische Ideen, die eigentlich ins sozialistische Repertoire gehören. Einige stellten am Beispiel des heruntergesparten Gesundheitswesens infrage, ob und wie das extreme Ereignis einer Pandemie unter dem Regime der neoliberalen Akkumulation überhaupt bewältigt werden könne. Ein neoliberaler Staatspräsident stellte plötzlich fest, dass es «Güter und Dienstleistungen gibt, die ausserhalb des Marktgesetzes stehen müssten». Derselbe Emmanuel Macron hinterfragte das «Entwicklungsmodell, auf das sich unsere Welt eingelassen hat» (Macron 2020). Bürgerliche Leitmedien wollten «radikale Reformen (diskutieren), welche die vorherrschende politische Richtung der letzten vier Jahrzehnte umkehren» (Kuper 2020). Sogar in der kapitalistischen Leitnation kamen Debatten über die Enteignung von Konzernen und Banken auf, so dass sich der US-Präsident bemüssigt fühlte zu twittern: «Wir verstaatlichen nicht in diesem Land!» (Nelles 2020). Mag die ungewohnte Offenheit für systemische Fragen der Verletzlichkeit durch die Corona-Krise geschuldet sein, die erwähnten staatlichen Massnahmen und politischen Debatten haben doch in bisher ungewohnter Weise die Systemfrage gestellt.