Editorial Heft 76

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 Das Traurige ist, dass wir uns beim Heranwachsen nicht nur an die Gesetze der Schwerkraft gewöhnen. Wir gewöhnen uns gleichzeitig an die Welt selber.» (Gaarder, Sophies Welt, 1993, 12)
 

Jugend, das ist traditionell der Übergang zwischen zwei Welten: Wir verlas­sen die Kindheit und werden zu Erwachsenen. Es ist eine Phase, in der Jugendliche aufbrechen, Erfahrungen machen, sich selbst definieren wollen. Und es ist eine Phase, die mit einer Reihe von Zuschreibungen, Gemeinplät­zen, Erwartungen und Normen verbunden ist, sodass sich die Vorstellung einer spezifischen Kultur des Jugendalters herausgebildet hat. In einer Ge­sellschaft, in der Flexibilität als Persönlichkeitsmerkmal im Vordergrund steht, sind die Grenzen dieser Kultur allerdings nicht mehr so klar wie frü­her. Noch immer gilt die Jugend als schönste Zeit des Lebens. Musik, Film und Kunst feiern den Mythos Jugend: schön, begehrt, gesund. Aber auf Dauer und in spätkapitalistischer Ausprägung?

Nummer 76 des Widerspruch masst sich nicht an, den Puls der heutigen Jugend zu fühlen. Das Heft fragt nach Lebensrealitäten, Wünschen und Ängsten heutiger Jugendlicher in einer Zeit grosser Ein­ und Umbrüche – allen voran die Finanzkrise 2008, die Klima­ und die Covid­19­Krise. Aber auch nach Erfahrungen, Erkenntnissen und Analysen, die aus der Arbeit mit Jugendlichen und dem Nachdenken über Jugend stammen. In zwei Artikeln beinhaltet dies auch das Erzählen über sich selbst (Hess, A’Campo). (Jugend­liches) Erzählen als gleichzeitiger Ausdruck von Individualität und kulturel­ len Mustern entspricht eher selten dem analytischen Zugang einer eorie­ zeitschrift, und entwickelt doch eine Kraft, die der jeweils eigenen, sich entwickelnden Sprache immanent ist. Eingefangen werden kann dies durch Literatur, die die Leerstellen und Zwischenräume der eigenen Schulzeit, jenseits von Bildungsinhalten, zum Sprechen bringt (A’Campo). Ebenso in kulturellen, archivarisch aufbereiteten Zeugnissen aus Jugendbewegungen (Rohmann) oder in Jugendkulturen, die zum Beispiel im Fall des deutschen HipHops gerade emanzipatorisch verändert werden (Kindl).

Jugendliche befinden sich in einer sensiblen und turbulenten Phase. Die Adoleszenz kann alle bisherigen Sicherheiten über den Haufen werfen und zu mannigfaltigen Bruchlinien führen, im eigenen Körper wie im fami­ liären und sozialen Umfeld. Freud sprach von der Latenzperiode; bestimmte frühkindliche Kon ikte würden über längere Zeit in der Latenz bleiben, also versteckt, um dann plötzlich wieder aufzubrechen und mit aller Begehrens­ macht über den sich entwickelnden Menschen hereinzubrechen (Bischof ). Ge­genwärtig treten persönliche Sensibilitäten, Stimmungsschwankungen und Unsicherheiten auf die beschriebenen krisenhaften Bedingungen, die die Jugendlichen nur zu gut erkennen. Dies als Erwachsene auszubalancie­ ren, ist leichter, wenn man sich über politische Faktoren und Widersprüche bewusst ist. Denn was antwortet man einer jungen Schwarzen Frau im Be­ rufs ndungsprozess, die wissen will, ob es stimme, dass Schwarze nur «schlechte Jobs» erhielten? Was jungen Menschen, die angesichts der Klima­ krise befürchten, eine «richtig schreckliche Zukunft» zu haben? Falscher Optimismus ist fehl am Platz, Pessimismus und Weltuntergangsvorstellun­gen sind es ebenso.

Jugendliche Entwicklungswege lassen sich auch als Wagnis verstehen, Neues wird ausprobiert, es wird viel lustiger Blödsinn gemacht und neben­ bei sollen Weichen für die Zukunft gestellt werden. Unter Verknappungs­ bedingungen besteht indessen die Gefahr, dass Jugendliche – bei all ihrer Kreativität und Unbekümmertheit – das Primat des Geldverdienens relativ früh verinnerlichen. Selbsterkundungen, Umwege und Ausprobieren kön­ nen riskant werden, denn Fehler oder Misslingen haben mitunter schwer zu korrigierende Auswirkungen. Mit diesem Druck gehen Jugendliche in der Schweiz unterschiedlich um. Gemäss der Juvenir­Studie 2015 berichten46 Prozent der Lernenden von Stress, Leistungsdruck und Überforderung, die in Schule und Ausbildung entstehen. Noch werden Jugendliche in der Schweiz von keiner Jugendpolitik unterstützt, die über diese Bedingungen nachdenken und die Zeit und den Vertrauensvorschuss einfordern würde, die für das Ausbilden von eigenständigen Persönlichkeiten notwendig sind (Düggeli). Demgegenüber setzt das neuseeländische Wellbeing Budget explizit auf die Förderung der Jugend (Kiener Nellen).

Schweizer Jugendpolitik müsste auch eine Diskussion um den Stellen­ wert der Berufslehre umfassen. Sie ermöglicht das praktische und theoreti­sche Erlernen von komplexen Fähigkeiten und Kompetenzen, steht gegen­ wärtig aber unter dem Druck eines enger werdenden Arbeitsmarktes und einer auf breiter Basis wirksamen Aufwertung akademischer Ausbildungs­ gänge. Für die Lehre gilt gegenwärtig genau so wenig wie für die vorange­ hende Schule, dass sie unter humanistischen Vorzeichen der Selbstverwirk­ lichung stehen würde. Stattdessen ist sie in emanzipationsfeindliche (Re­)­ Produktionsverhältnisse eingebunden, in denen sich die Bedürfnisse der Subjekte denjenigen des Arbeitsmarktes unterordnen müssen. Dies umfasst auch, dass die Bewältigung struktureller Problematiken (Diskriminierun­gen, Weiterbildungsdruck oder ein durch Covid­19 erschwerter Einstieg ins Berufsleben) auf die einzelnen Individuen abgeschoben wird (Racine/Ziltener).

Das neoliberale Credo «wer sich genug bildet, schaft es schon», ge­paart mit elterlichen Erwartungen, Aufstiegshoffnungen und Abstiegsängs­ten, setzt auch Jugendliche aus gut situierten und reichen Elternhäusern un­ ter Druck. Obschon auch sie von einer entwicklungsunterstützenden Für­sorge profitieren würden, steht ihre Perspektive nicht im Zentrum des Heftes. Kinder von begüterten Eltern oder Akademiker*innen, die (auch bei bescheidenen Leistungen) auf höhere Bildungslaufbahnen drängen, sind medial gut repräsentiert. Sie gelten in der Schweiz nachgerade als Norm. Mitunter trägt dies dazu bei, weit verbreitete, klassen­ und migrationsspe­zifische Entmutigungsstrukturen auszublenden.

Ein weiteres dem Thema Jugend zugehöriges Feld ist die Bildungspoli­tik. Mit dem 2004 in einer Abstimmung angenommenen Bildungsartikel wurden das Schuleintrittsalter, die Dauer und die Ziele der Bildungsstufen gesamtschweizerisch harmonisiert. Die Abstimmung stand unter dem Vor­zeichen zweier übergeordneter Entwicklungen. Zum einen sind das die Be­strebungen nach Inklusion und Integration, den beiden Leitbegriffen mo­derner Pädagogik. Folgt man ihnen, so zeigt sich, dass eine frühe schulische Selektion zu einer Benachteiligung unterprivilegierter Schüler*innen führt. Sie bewirkt unterschiedlich förderliche Lern­- und Sozialisationsbedingun­gen entlang von (De­)Privilegierungsfaktoren wie ethnische Herkunft, Ge­schlecht oder finanzielle und kulturelle Ressourcen des Elternhauses (Sagels­dorf /Simons). Die andere Entwicklungslinie bezieht sich auf den ökonomisch gerahmten Kompetenzdiskurs, der im Zuge von internationalen Schulleis­tungs­ Vergleichsstudien, namentlich den PISA­Studien, auf zentrale Prü­fungen und Testergebnisse sowie auf eine primäre Anbindung von Bildung an die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes setzt. Diese doppelte Ausrichtung führt zu Widersprüchen zwischen integrativ gedachten – oder auch nur be­ zeichneten – Schulen und den Erfordernissen einer auf Konkurrenz be­ruhenden Leistungsgesellschaft (Crain). Letztlich produzieren die Widersprü­che auch Bildungsverweiger*innen, die erkennen, dass schulische Anstren­ gung sich für sie ohnehin nicht lohnt, und deren Rebellion das Schulsystem zu überfordern droht. Immer wieder nden sich unter den Jugendlichen aber auch widerständige Persönlichkeiten, die sich trotz widriger Umstände ihren Weg bahnen, mitunter indem sie die Ränder des Berufsbildungssys­tems, etwa zahlungsp ichtige, berufsbildende Privatschulen, für sich zu nutzen wissen (Preite).

Für andere junge Menschen in der Schweiz ist die Jugend eine primär von Armut, sozialer Ausgrenzung sowie fehlenden Bildungs­ und Zukunfts­perspektiven gekennzeichnete Zeit, die sich meist auch mit dem Eintritt ins Erwachsenenalter nicht substanziell verbessert. Vorläufig aufgenommene junge Menschen flüchteten vor Krieg, Terror und anderen Katastrophen und suchten in der Schweiz Asyl. Neben prekären Wohnbedingungen und einem Leben am Existenzminimum sehen sie sich mit zahlreichen Hürden beim Zugang zu Bildung konfrontiert (Castelli/Wyder).

Die vielfältigen Krisen, mit denen heutige Jugendliche aufwachsen, er­ schweren den Übergang ins Erwachsenenleben fraglos. Dies führt aber nicht nur zu Ängsten und Ohnmachtserfahrungen, sondern birgt auch ein grosses Mobilisierungspotenzial, das in den letzten Jahren in weltweiten Protesten Ausdruck fand. Aufstände, an deren Spitze Jugendliche stehen, er­ strecken sich von Chile bis Hongkong, vom Libanon und von Algerien bis Haiti (Zellhuber). Sie richten sich gegen eine Realpolitik, die die Realität, näm­ lich die Dringlichkeit des Wandels, ignoriert und einer Machbarkeits­ und Verwertungslogik verhaftet bleibt. Solche Ordnungen stellen Jugendliche weltweit in Frage, radikaler und risikobereiter als Erwachsene. Wie sähen Gesellschaften aus, die mit weniger Rohsto verbrauch und ohne Ausbeu­tung von Mensch und Natur ein gutes Leben für alle ermöglichen würden (Hess)? Junge Menschen werden in unseren Breitengraden oft für ihre Radika­ lität belächelt. Es fragt sich jedoch, wie lange noch. Denn es wird immer of­ fensichtlicher, dass eine Politik, die angemessen auf krisenhafte und prekäre Realitäten reagieren will, vermeintlich Unmögliches einfordern muss.

Die Redaktion, im Februar 2021

PS: Nachdem mit Heft 74 das Redesign des Widerspruch umgesetzt wurde, er­ folgt mit Heft 76 der Relaunch der neuen Webseite: Auf www.widerspruch.ch trägt der Widerspruch nun auch online ein neues Kleid.