Ernst Hubeli: Die neue Krise der Städte

Gabriela Neuhaus
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Das kleine Buchformat täuscht: Die gut 150seitige Auslegeordnung über die Herausforderungen und Anachronismen der Wohnbaupolitik sowie die individuellen Ansprüche ans Wohnen beinhaltet eine geballte Ladung an historischen Querverweisen, Analogien, Hintergründen und Denkanstössen. Die Lektüre fordert den Leser, die Leserin. Die Übersicht zu behalten ist nicht immer ganz einfach, angesichts der zahlreichen Ebenen und Zugänge zur Thematik. Im Zentrum stehen nicht nur Fragen nach dem Recht auf Wohnen, das im Widerspruch steht zu Boden- und Immobilienbesitz, sondern auch grundsätzliche Überlegungen zur Rolle von Heimat, Wohnen und urbanem Leben.

Der Autor holt weit aus. Ernst Hubeli, ehemaliger Professor und Leiter des Instituts für Städtebau an der Technischen Universität Graz, Chefredakteur der Fachzeitschrift Werk und Mitinhaber des Architekturbüros Herczog Hubeli in Zürich, kann aus dem Vollen schöpfen. Und tut dies mit grosser Lust. Schon im Einführungskapitel spannt er den Bogen von Homers Volksepos mit Odysseusʼ Heimkehr ins Ehebett unter dem Olivenbaum über Friedrich Engels Schilderungen des Wohnungselends im London des 19. Jahrhunderts bis zu Martin Heideggers Definition von Wohnungsnot als «Heimatlosigkeit der Menschen». Abgeleitet von Heideggers Frage, «ob Wohnen erst ‹das Sein› ermöglicht und ob ‹das Sein› sich im Wohnen wiedererkennen kann», spinnt Hubeli den Faden weiter und fragt: «Spiegelt das Wohnen die Gesellschaft? Oder spiegelt die Gesellschaft das Wohnen?» (S. 10).

Globales Kapital entmachtet die Stadtgesellschaft. Ausgehend von solchen Grundsatzfragen beleuchtet der Autor in einer fast 40seitigen Einführung erst einmal die «politische Ökonomie der Seelenkisten» (S. 8). Hubeli ortet in der heutigen Gesellschaft einen Rückzug ins Private. Das eigene Zimmer ist gleichzeitig intimes Nest und der Hub zur Welt. Genauso, wie wir als Individuen Teil eines weltweiten Netzwerks sind, verhält es sich mit unseren Wohnungen: Immer öfter gehören sie global agierenden Immobilienkonzernen. Die US-amerikanische Soziologin Saskia Sassen spricht in diesem Zusammenhang von einer «Finanzialisierung der Städte, deren dereguliertes Wachstum eine schleichende Entmachtung der Stadtgesellschaft nach sich zieht, die in der Folge einer zunehmenden Verödung und Entwertung ihrer urbanen Alltagskultur ausgesetzt ist.» (S. 18) Doch nicht nur die Stadtkultur ist bedroht, sondern letztlich auch das Wohnen in der Stadt. Durch die wachsende Nachfrage nach städtischen Immobilien vervielfachten sich die Bodenpreise in den Zentren. Dies wiederum hat dramatische Auswirkungen auf die Mietpreise, so dass sich vielerorts Normalbürgerinnen und -bürger die Wohnung in der Innenstadt gar nicht mehr leisten können. Dazu zitiert Hubeli eine Stadtanalyse von UN-Habitat, dem Wohn- und Siedlungsprogramm der Vereinten Nationen: «Im Unterschied zum Kapital kann Boden weder akkumuliert noch vernichtet werden. Er ist ein Allgemeingut und seine Privatisierung in sich ein Widerspruch. Ohne eine Sozialisierung des Bodens sind Entwicklungen der Städte nicht zu lenken. Das gilt auch für das Wohnen.» (S. 21)