"Es geht der herrschenden Klasse in Russland ums Überleben"

Wolodymyr Ischtschenko
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Das Interview führte Małgorzata Kulbaczewska-Figat für Crossborder Talks. Stefan Howald kürzte und übersetzte den Text. Das ungekürzte Original findet sich unter www.crossbordertalks.eu/2022/07/29/russia-politicalcapitalists/.


Du hast gesagt, du hättest den Krieg nicht erwartet – so wie viele andere Beobachter:innen auch, mich eingeschlossen. Lässt sich jetzt erklären, warum die herrschende Klasse in Russland sich entschieden
hat, diesen Krieg zu beginnen und was sie damit zu erreichen hoffte – abgesehen davon, ihre Herrschaft in Russland zu festigen?

Genauer gesagt, ich hätte nicht gedacht, dass es zu einer grossflächigen Invasion kommen werde, aber ich hatte erwartet, dass das Scheitern der russischen Zwangsdiplomatie zu einer militärischen Eskalation führen könnte, die sich zuerst auf den Donbass beschränken würde und dann zu langsameren, schrittweisen, hybriden Versuchen, Teile der Ukraine zu destabilisieren, zu demontieren und zu übernehmen – eine Salamitaktik. Selbst die ukrainische Regierung und vermutlich die meisten Beobachter:innen der postsowjetischen Region erwarteten so etwas (Yilmaz 2022).
Jedenfalls ist der Krieg in dieser oder einer anderen Form im Interesse der herrschenden Klasse in Russland. Ich stimme nicht mit jenen Interpretationen überein, die von einer fanatischen Identifikation der herrschenden