Generativität, Geschlecht und Gesellschaft – revisited

Franziska Schutzbach
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An der UN-Bevölkerungskonferenz von Kairo im Jahr 1994 wurden bevölkerungspolitische Zwangsmassnahmen[i] offiziell abgeschafft und verboten. Verabschiedet wurde die Agenda der Reproduktiven Gesundheit und Rechte, die erstmals Fortpflanzung (Generativität[ii]) auf die Basis von Menschenrechten stellte. Frauen sollten von nun an selbst über ihre reproduktive Gesundheit sowie darüber bestimmen, wann und wie sie Kinder bekommen. Die Agenda von Kairo ist bis heute richtungsweisend für die UNO-Mitgliederländer bei der Gestaltung ihrer (Gesundheits-)politik zu den Themen Fertilität, Schwangerschaft, Geburt, Abtreibung, Verhütung, Reproduktionstechnologien usw. Die Agenda war – trotz wichtiger Errungenschaften – nicht unumstritten[iii] und blieb etwa anschlussfähig für geburtensteuernde Ziele (Schultz 2006). Schultz beschreibt den Fokus der Programme auf Gesundheit als einen Paradigmenwechsel, der biopolitische Makroziele wie zum Beispiel Geburtensteuerung unsichtbar machte, weil diese von nun an in die individuellen Entscheidungen von Individuen hinein verlagert wurden. So würden Frauen im Globalen Süden mit der Botschaft adressiert, dass es für sie gesünder wäre, weniger Kinder zu bekommen. Anders ausgedrückt: Die Agenda von Kairo machte Antinatalismus mit dem Argument der Gesundheit und Selbstbestimmung legitimierbar.

 

Generativität, Geschlecht und Mutterschaft

In meiner Dissertation (2020) untersuche ich, wie die Konzepte von Kairo ab 2001 im europäischen Raum durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO, Büro Europa) implementiert und für die spezifisch europäischen Bedürfnisse adaptiert wurden. Stark verkürzt bin ich unter anderem zu den folgenden Erkenntnissen gelangt: Themen der Generativität werden im Zuge des WHO-Framings erstens noch stärker als in der Kairo-Agenda vergesundheitlicht, politische reproduktive Rechte finden kaum noch Erwähnung. Der Fokus auf Gesundheit und Risikokalkulationen koppelt reproduktive Selbstbestimmung stark an die Frage, wie Individuen gesundheitlich richtig handeln können. Dieser individualisierende Zugang generiert gleichzeitig und quasi durch die Hintertür normative Vorstellungen darüber, wessen Verhalten richtig ist, wessen Generativität gewollt, und welche es nicht ist. Zweitens wird Generativität feminisiert. Die WHO-Programmatik konstruiert einen scheinbar natürlichen Verweisungszusammenhang zwischen Generativität, Weiblichkeit und Mutterschaft. Generativität wird zur Frauensache gemacht.

 

[i] Verboten wurden etwa Zwangssterilisationen, aber auch die Formulierung demographischer «targets“.
[ii] Ich nenne es im Folgenden Generativität, da es sich um einen weniger biologistischen Begriff handelt, vgl. Schutzbach 2020.
[iii] Die ursprünglichen Forderungen der Frauenbewegungen wurden im Zuge des Kairo-Kompromisses abgeschwächt: Abtreibung zum Beispiel wurde nicht als allgemeines Menschenrecht anerkannt (Sax 1995).