Mit wem sind wir solidarisch?

Hanna Perekhoda
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Der russische Krieg und die blinden Flecken der Linken

Warum hat Russland die Invasion in der Ukraine gestartet? Auf der Suche nach fundierten Erklärungen für eine sich stark verändernde Welt haben viele linke Intellektuelle im Laufe des Jahres 2022 in ihrer Argumentation eine überraschende Nähe zu ihren Kolleg:innen aus dem gegnerischen politischen Lager gezeigt (Scahill 2022; Paul 2022; Bella 2022). Sie verurteilen – mal stärker, mal weniger stark – die Brutalität der russischen Invasion. Hingegen stimmen sie überein, dass es letztendlich der Westen sei, verkörpert in der NATO und den Vereinigten Staaten, der für das Geschehen verantwortlich ist.

Diejenigen, die eine solche Lesart vertreten, teilen – manchmal ohne es zu wissen – die Sichtweise der sogenannt neorealistischen Analyse internationaler Beziehungen (Vilmer 2022), die auf der Überzeugung beruht, dass Staaten rationale Akteure sind, die versuchen, ihre nationalen Interessen zu maximieren. Weil sie in einer feindlichen und unbarmherzigen Welt operieren müssen, unterwerfen die Staaten sich einer Logik des Nullsummenspiels. Auch Russland wäre somit ein rationaler Akteur, der von objektiven sicherheitspolitischen Bedenken geleitet werde (Chotiner 2022). So etwa die Einschätzung von John Mearsheimer (2015; 2014), dem bekanntesten Vertreter dieser Denkschule, wie er sie in einem Vortrag entwickelte, den er ein Jahr nach der Annexion der Krim und dem Beginn des russisch-militärisch geprägten «Bürgerkriegs» im Osten der Ukraine hielt. Für den Professor gab es keinen Zweifel: Die NATO-Erweiterung habe Russland in Gefahr gebracht, und Moskau habe keine andere Wahl gehabt, als zu reagieren. Putin, ein pragmatischer und rationaler Führer, sei allerdings «viel zu intelligent», um sich in einen gross angelegten Krieg zu stürzen. Der Professor hat sich geirrt.