Pseudowissenschaft als Trend
Zum Aufstieg der Geopolitik im postsowjetischen Russland
Der Begriff «Geopolitik» ist im heutigen Russland seit Jahrzehnten omnipräsent. Er ertönt in den allabendlichen Polit-Talkshows in den staatlichen TVKanälen, taucht in den Überschriften der akademischen Publikationen auf, in den Kolumnen der Tagespresse und in den Auftritten der parlamentarischen wie auch der radikalen Opposition. Dabei war die Geopolitik in der Sowjetunion einst absolut verfemt. Die Grosse Sowjetische Enzyklopädie bezeichnete sie – zwar mit etlichen ideologisch gefärbten Invektiven versetzt – jedoch ganz zutreffend als eine Pseudowissenschaft beziehungsweise als «bürgerliche, reaktionäre Konzeption» (Alampiev/Semenov 1971, 316), die einen Determinismus der geografischen Lage für die Politik behaupte. Ferner ging das Nachschlagewerk auf die historischen Wurzeln der Geopolitik im Zeitalter der kolonialen Konkurrenz ein und auf die Rolle von Geopolitikern wie zum Beispiel Karl Haushofer bei der Formulierung der Ideologie sowie der aussenpolitischen Ziele des deutschen Nationalsozialismus. Als im Herbst 1993 das erste nach der neuen postsowjetischen Verfassung gewählte Parlament Russlands zusammentrat, wurde dort ein bis 1999 unter diesem Namen bestehender Ausschuss für Fragen der Geopolitik geschaffen. Es dauerte nicht lange, bis es Lehrbücher gab über die nun in die Familie der wissenschaftlichen Disziplinen aufgenommene Lehre von der Abhängigkeit politischer Prozesse von der geografischen Lage der Staaten (Nartov 1999; Muchaew 2007). Wie erklärt sich eine derartig rasante Karriere der Geopolitik in
der Russischen Föderation?