«Wir wollen die Sonnenstrahlen spüren»

Milo Probst
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In der Schweiz wird seit zwei Jahren wieder gestreikt. Und das nicht mehr bloss so, wie es sich das Land des Arbeitsfriedens lange Zeit gewohnt war. Eine halbe Million Frauen, Trans-, Nonbinäre-, Inter- und Agender-Menschen demonstrierten und bestreikten am 14. Juni 2019 – sowie in geringerem Ausmass in den darauffolgenden Jahren – die Arbeit, die sie normalerweise bezahlt oder unbezahlt verrichten müssen.1 Aber auch Schüler*innen und andere junge Menschen haben ab Dezember 2018 in regelmässigen Abständen ihre schulische Arbeit niedergelegt, um einen griffigen Klimaschutz zu fordern. Mit den Feministinnen Mariarosa Dalla Costa und Selma James (1971, 8) liesse sich sagen, dass sich diese jungen Menschen weigerten, die Erwartungen zu erfüllen, die die kapitalistische Gesellschaft an ihre Altersgruppe heranträgt. Wieso fleissig lernen, wenn die ökologischen Grundlagen unseres Zusammenlebens in einem erschreckenden Tempo zerstört werden? Eine Entidentifikation mit gewissen Vorstellungen von Jugendlichkeit fand statt: Plötzlich gab es Tausende Schüler*innen, die sich Kenntnisse über die Berichte des Weltklimarats aneigneten und die Entscheidungsträger*innen in Politik und Wirtschaft für ihre Untätigkeit anprangerten.

Sowohl in der feministischen wie auch der klimapolitischen Bewegung wurde Arbeit im weiten Sinne – also der Beitrag, der von Individuen und Gruppen zur Reproduktion der Gesellschaft eingefordert wird – verweigert oder sichtbar gemacht. Beide Bewegungen haben damit die Arbeit politisiert. Wenn sie vom «Streik» sprechen, handelt es sich somit nicht nur um eine begriffliche Anlehnung an Arbeitsstreiks. Vor allem den feministischen Streiks ist es dabei gelungen, zu kritisieren, dass sorgende Tätigkeiten – ob bezahlt oder unbezahlt – dem Kriterium der Rentabilität und der Standardisierung unterworfen werden. Es wurde sichtbar gemacht, dass Sorgearbeit unter Zeitdruck und Bedingungen der Profitmaximierung eine ermüdende, nicht selten krank machende und durch soziale Verhältnisse aufgezwungene Tätigkeit ist. Um die schönen und bereichernden Seiten aus diesen Sorgetätigkeiten herauszukehren, brauche es eine andere Beziehung zwischen Erwerbsarbeit und Care-Arbeit, mehr Lohn, Zeit und Respekt. Sorgearbeit wird damit zu einem «Bezugspunkt der Gesellschaftsveränderung», wie es Gabriele Winker (2015, 138) forderte.