Vom Umgang mit Verletzlichkeiten

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Überlegungen zum Kampf um Gesundheit in der neoliberalen Arbeitswelt
 

Die Geschichte der modernen Industriearbeit ist nicht nur im ökonomischen Sinne eine Geschichte von Ausbeutung, sondern auch im sozialen Sinne eine Geschichte extremer körperlicher und seelischer Belastungen, eine Geschichte von Leid, Krankheit und frühem Tod (Hien 2018). Hochindustrialisierung, Fordismus und Postfordismus haben eine gewaltige Schattenseite, deren Thematisierung nicht immer auf offene Ohren stösst; selbst bei Betroffenen werden gerne die schönen Seiten erinnert, bei Werftarbeitern z. B. sind dies die grossen und beeindruckenden Schiffe, die sie gebaut haben. Der Produzentenstolz verdrängt das eher bedrückende Thema des Arbeitsleides, so z. B. der frühe Tod durch Asbest vieler Kollegen (Hien u. a. 2002; 2007).

Eduard Heimann, ein sozialethisch denkender Ökonom, veröffentlichte 1929 sein Buch Soziale Theorie des Kapitalismus. Dort wird, wie es noch bis 1933 üblich war, der Arbeiterschutz – auch begrifflich noch nicht eingedampft auf «Arbeitsschutz“ – als eine der sozialpolitischen Hauptaufgaben begriffen. Heimann benennt das Problem in einem klaren Satz: «Der Markt ist kurzsichtig und zum Raubbau geneigt; deswegen muss man marktfremde Mittel gegen den Raubbau anwenden» (ebd., 219). Heimann hoffte auf eine «Sozialisierung von unten», zweifelte aber an der schöpferischen Kraft des Proletariats. Gleichwohl stand der ArbeiterInnenschutz in den ersten Jahrzehnten der modernen ArbeiterInnenbewegung ganz im Vordergrund, so z. B. in den grossen Bergarbeiterstreiks 1889, 1905 und 1913, und in den grossen Streiks der Textilarbeiterinnen 1893, 1903, 1911 und 1912. Der Kapitalseite musste Gesundheitsschutz mühsam Stück für Stück abgerungen werden. Die Gewerkschaftsbürokratie, die vor dem Hintergrund der «Dialektik der partiellen Errungenschaften» (Ernest Mandel) immer stärker ihre Eigeninteressen zu verteidigen begann, versuchte zusehends, zwischen den gegensätzlichen Interessen zu vermitteln. Sie orientierte dabei auf staatliche Regulierung und Rechtsetzung, nicht aber auf die Mobilisierung der Arbeitenden selbst. Die sozialdemokratischen Partei- und Gewerkschaftsführungen setzen auf ein gesellschaftliches Konzept der Sozialpartnerschaft – sichtbar schon vor dem Ersten Weltkrieg, explizit betrieben mit der Burgfriedenspolitik und fortgesetzt mit der Mitbestimmungspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg.