Ruth Ammann: Berufung zum Engagement?

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Obwohl seit einigen Jahren eine Strasse in Zürich-Affoltern ihren Namen trägt, war über das umfangreiche Schaffen Dora Staudingers bisher erstaunlich wenig bekannt. Unter dem Titel Berufung zum Engagement? beleuchtet Ruth Ammann in ihrer an der Universität Bern verfassten Dissertation das Leben der Genossenschafterin und religiösen Sozialistin – und rückt damit zwei zentrale Aspekte ihrer Person in den Mittelpunkt.

Anhand der Biografie Dora Staudingers fragt die Autorin nach dem zugrundeliegenden politischen Selbstverständnis und rekonstruiert gesellschaftliche «Veränderungen aus ihrer Sicht, durch ihre Person in ihrem spezifischen – persönlichen, politischen – Umfeld als Frau» (S. 17). Gegliedert ist die Publikation in drei chronologische Hauptkapitel, die in sich mehrheitlich thematisch, stellenweise aber auch chronologisch strukturiert sind. Aufgrund der Heterogenität der Tätigkeiten und Engagements behandelt Ruth Ammann nicht das gesamte Leben Dora Staudingers, sondern legt einen Fokus auf die Zeit zwischen 1912 und 1929, während der sie in der Stadt Zürich lebte, ohne dabei die Jahre davor und danach gänzlich ausser Acht zu lassen. Die Quellenbasis setzt sich zum einen aus Ego-Dokumenten Dora Staudingers zusammen (die allerdings nur punktuell vorliegen) und zum anderen aus Material der verschiedenen Organisationen, in denen sie engagiert war oder von Personen, die ihr nahestanden.

Auf dem Weg zum Deutschen Frauenkongress 1912, der den ersten Teil umrahmt und der gleichzeitig den Ausgangspunkt ihres aktiven politischen Engagements markiert, begann für Dora Staudinger eine rund sechs Monate dauernde intensive Phase des Tagebuchschreibens. Am Frauenkongress konnte sie sich gänzlich und unabhängig von ihrem familiären Umfeld den politischen Themen widmen, die sie interessierten. Neben inhaltlichen Referaten unter anderem zu den Einflussmöglichkeiten von Frauen in Genossenschaften, hinterliess insbesondere das progressive Verständnis der anderen Kongressteilnehmerinnen zu Freundschaft, Ehe und Kameradschaft einen bleibenden Eindruck bei Dora Staudinger. In diesem ersten Teil stellt Ruth Ammann auch Bezüge in die Vergangenheit her und beleuchtet die unterschiedlichen Milieus, durch die Dora Staudinger von ihrer eigenen und der Familie ihres Ehemannes Hermann Staudinger geprägt worden war. Bereits hier werden erstmals die wiederkehrenden Rollenkonflikte sichtbar, mit denen sie als Ehefrau eines erfolgreichen Akademikers und Mutter sowie als politisch engagierte Frau zu Beginn des 20. Jahrhunderts konfrontiert wurde.