Zurück in die Zukunft

Baldassare Scolari
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Aneignung und Enteignung in Ursula K. Le Guins The Dispossessed – An Ambiguous Utopia

 

«Ich halte Vorstellungskraft für das mit Abstand nützlichste Werkzeug, das der Menschheit zur Verfügung steht»
Ursula Le Guin: Am Anfang war der Beutel (2020, 23)

 

The Dispossessed – An Ambiguous Utopia von Ursula K. le Guin ist ein paradigmatisches Beispiel für die Zusammenkunft von klassischer Utopie und Science-Fiction. Was diesen Roman noch heute so aktuell macht, ist unter anderem die Tatsache, dass hier eine utopische Gemeinschaft imaginiert wird, die unter der Bedingung planetarischer Ressourcenknappheit lebt. Nach der von Odo, einer Frau, eingeleiteten anarchistischen Revolution auf dem Planet Urras leben die Nachkommen der Aufständischen auf dem Mond Anarres im selbstgewählten Exil. Im Vergleich zu Urras ist Anarres ein unwirtlicher Ort: «Die Evolution war nicht über Fische und blütenlose Pflanzen hinausgegangen. Die Luft war so dünn wie die Luft auf Urras in sehr grosser Höhe. Die Sonne brannte, der Wind war eisig, der Staub verstopfte die Atemwege.» (Le Guin 2017, 106 [im Folgenden abgekürzt mit TD]) Urras hingegen ist der irdischen Welt sehr ähnlich und befindet sich in einer geopolitischen Lage, die ungefähr diejenige unseres Planeten während dem kalten Krieg widerspiegelt. Urras ist in mehrere Staaten unterteilt, wird jedoch von seinen beiden rivalisierenden Supermächten A-Io und Thu dominiert. A-Io ist ein Staat mit einer kapitalistischen Wirtschaft und einem patriarchalischen Gesellschaftssystem, während Thu die grundsätzlichen Züge eines stark zentralisierten und autoritären, realsozialistischen Regimes hat. Im Unterscheid dazu ist das Gemeinschaftsleben auf Anarres anarcho-syndikalistisch organisiert. Die Anarresti, die sich nach der Begründerin ihrer politischen Philosophie Odonier nennen, kamen vor etwa 200 Jahren aus Urras nach Anarres. Um einem anarchosyndikalistischen Aufstand zuvorzukommen, gaben die grossen Urrasti-Staaten den Revolutionären das Recht, auf Anarres zu leben. Abgesehen von einigen Bergbauanlagen hatte dieses zuvor keine dauerhaften Siedlungen gehabt. Die wirtschaftliche und politische Situation von Anarres ist in seiner Beziehung zu Urras ambivalent. Die Menschen in Anarres betrachten sich als frei und unabhängig; die Mächte von Urras betrachten Anarres jedoch im Wesentlichen als ihre Bergbaukolonie, die jährlich Edelmetalle an die Grossmächte auf Urras liefert.